Aktuell freuen sich viele, dass „die Digitalisierung“ so schnell vorangeht. Unternehmen sind gezwungen ins HomeOffice zu gehen und arbeiten online zusammen. Schulen und Universitäten vermitteln ihre Inhalte mit Videokonferenzen. Der ein oder andere Technikkonzern jubelt, dass so viele Lizenzen für die eigenen Programme zur Onlinezusammenarbeit verkauft werden.
Vieles von dem, was wir da beobachten können, ist vielleicht wirklich ein Fortschritt, denn lange Zeit war in vielen Organisationen der Wille zur Veränderung so gering, dass digitale Innovatoren nur mit angezogener Handbremse fahren durften. Jetzt heißt es aber: „Vollgas geben!“ – aber fahren wir auch in die richtige Richtung?
Für mich stellen sich in diesem Kontext zwei Fragen: Wie kann die Bewältigung von Krisen besser gelingen? Und: Wie setzen wir die Digitalisierung „richtig“ um?
Mensch und Gesellschaft müssen wohl Krisen oder sogar Katastrophen überwinden, um zu wachsen. War das nicht schon immer so? Heranwachsende müssen die Krise „Pubertät“ durchlaufen. Alles wird in Frage gestellt. Die Eltern, das Selbst, das System und eigentlich alles wird bezweifelt, bekämpft oder zumindest auf den Prüfstand gestellt. Im Verlauf dieser Krise finden fast alle ihre eigene Identität. Was für ein Gewinn für das Individuum!
Umfassende gesellschaftliche Krisen muss man schon etwas mehr suchen, da wir in Mitteleuropa schon so lange auf der Insel der Glückseligen leben. Die letzte echte gesamtgesellschaftliche Katastrophe (Krise) war sicher der zweite Weltkrieg mit seinem daraus resultierenden unfassbaren menschlichen Leid. Ebenso steht er für Zerstörung – nicht nur der Infrastruktur oder des politischen Systems, sondern der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Identität. „Zum Glück!“, möchte man an dieser Stelle sagen – vor allem wenn man sieht, was in den Jahren nach dem Krieg als Systemwechsel und Wirtschaftswunder in die Geschichtsbücher eingehen sollte.
Warum werden viele Krisen – oder sogar die meisten – eigentlich gemeistert?
In den seltensten Fällen wird nach einer Krise jemand sagen: „Gut, dass es die Krise gab, denn dadurch haben wir uns schneller weiterentwickelt!“ Aber darum geht es ja auch gar nicht, denn die Krise wird ja gar nicht bewußt ausgelöst. Die Pubertät kommt von selbst und einen Krieg und die Zerstörung des eigenen Landes wird niemand in Erwägung ziehen, auch wenn ein Wirtschaftswunder folgen könnte. Krisen gehören zum Leben dazu und sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in irgendeiner Art und Weise auch unberechenbar sind.
Vielleicht kommt es also vor allem auf den Umgang mit der Krise an.
- Die Gelassenheit der Eltern in der Pubertät, gepaart mit einer eigenen klaren Haltung, die Orientierung gibt.
- Der Zukunftsoptimismus und Lebenswille nach einem Krieg, sich ein neues, besseres Leben aufbauen zu wollen und aus den Fehlern zu lernen.
- Der optimistische Blick nach vorne.
Wie setzen wir denn nun – motiviert durch die Krise – die Digitalisierung „richtig“ um?
Ich bin davon überzeugt, es hilft die Haltung, aus Krisen und neuen Erfahrungen Lernen zu wollen, ohne in ein „früher war alles besser“ zu verfallen.
Wir haben nun gelernt, dass Videokonferenzen nicht entfremden, sondern Mitarbeiter und auch Familien enger zusammen bringen können.
Wir haben auch gelernt: Online-Meetings sparen für Unternehmen überraschenderweise Reisekosten und nachweißlich einige Tonnen in der CO2-Bilanz.
Das sollte doch Grund genug sein, weiter zu bohren, ob wir vielleicht vor der Krise die eine oder andere weitere Chance der Digitalisierung übersehen haben!
Klar, in der Krise werden auch viele notwendige Schnellschüsse gemacht, um akute Probleme zu lindern. Ein simples Beispiel, dass wahrscheinlich in den meisten Unternehmen bekannt ist: Dokumente aus der Buchhaltung müssen durch die Geschäftsleitung unterschrieben werden – beide sind im Homeoffice.
- Die schnelle Lösung ist: Die Dokumente werden gescannt, im Homeoffice ausgedruckt, unterschrieben, wiederum gescannt, usw.
- Die nächstbessere Lösung ist vielleicht: Wir verteilen Tablets mit Stift und unterschreiben in pdf-Dokumenten! (aber machen den gleichen wahnsinns Prozess genau so… nur digital)
Vielleicht könnte man den Prozess aber auch komplett neu denken!
Wichtig ist es also, wachsam zu sein und Fehlentwicklungen zu erkennen. Ich halte es da gerne mit dem oft zitierten Satz:
«Wenn Sie einen Scheissprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiss digitalen Prozess.» (Thorsten Dirks, CEO Telefónica Deutschland)
Leider kratzen wir auch jetzt noch in vielen Lebensbereichen nur an der Oberfläche der Digitalisierung – sehr plakativ kann man das im Moment im Bildungssystem beobachten und sich stellvertretend auch für andere Bereiche die Frage stellen: Werden wir auch nach der Krise noch die Chancen des digitalen Unterichts nutzen und professionell weiterentwickeln?
Die Krise hilft uns, die Möglichkeiten der Digitalisierung besser zu begreifen. Die Verschmelzung von digitaler und realer Welt hat einen richtigen Schub bekommen. Auschöpfen müssen wir diese Möglichkeiten jetzt aber selbst!
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